Was ist Medizinproduktehaftung – und warum betrifft sie jeden Hersteller?
Wenn ein Herzschrittmacher versagt, eine KI-Diagnose einen Tumor übersieht oder ein Implantat Entzündungen hervorruft, stellt sich eine zentrale Frage: Wer haftet?
Hier kommt die Medizinproduktehaftung ins Spiel – ein juristisches Minenfeld zwischen Produktsicherheit, Patientenschutz und Herstellerverantwortung.
Im Kern regeln mehrere Gesetze, wer für Schäden aufkommt, die durch fehlerhafte Medizinprodukte entstehen:
- Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG)
- Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz (MPDG)
- Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR)
Hersteller, Händler, Importeure und mitunter auch Ärzte sind davon betroffen. Haftung kann teuer, geschäftsgefährdend und rufschädigend sein – gerade in Zeiten von KI-basierter Medizin und globalen Lieferketten.
Was gilt überhaupt als „Medizinprodukt“?
Medizinprodukte sind nach § 3 MPDG vom Fieberthermometer bis zum KI-gestützten Diagnosesystem alle Instrumente, Apparate, Software oder Stoffe, die der medizinischen Diagnostik oder Therapie dienen.
Beispiele:
- Klassisch: Blutdruckmessgeräte, Verbandsmaterial, Insulinpumpen
- Hightech: Künstliche Intelligenz für Tumorerkennung, OP-Roboter, Implantat-Tracking via App
Wichtig: Entscheidend ist die Hauptwirkung. Ist diese physikalisch (nicht pharmakologisch oder immunologisch), fällt das Produkt unter die Definition für Medizinprodukte.

Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz: Wann der Hersteller zahlen muss
Nach dem Produkthaftungsgesetz (§ 1 ProdHaftG) sind Hersteller zur Haftung verpflichtet, wenn ein Produkt nicht die Sicherheit bietet, die vernünftigerweise erwartet werden kann.
Voraussetzungen für eine Haftung:
Kriterium | Bedeutung |
Produkt | Bewegliche Sache – auch Software oder Bestandteil eines anderen Produkts |
Fehler | Konstruktions-, Produktions- oder Instruktionsfehler |
Schaden | Körperverletzung oder Sachschaden |
Kausalität | Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden muss belegbar sein |
Inverkehrbringen | Das Produkt wurde durch den Hersteller in Umlauf gebracht |
Praxisbeispiel:
Ein Herzschrittmacher versagt aufgrund eines Serienfehlers. Der Hersteller haftet, wenn nachgewiesen wird, dass der Fehler bereits bei der Auslieferung vorlag, unabhängig davon, ob er ihn kannte oder nicht.
Achtung bei KI & Software: Wer haftet, wenn der Algorithmus falsch liegt?
Ein wachsender Haftungsbereich: Medizinprodukte mit künstlicher Intelligenz.
Beispiel: Ein Diagnosetool stuft eine Krebserkrankung als harmlos ein.
Wer ist verantwortlich?
Mögliche Haftungsketten:
- Softwarehersteller, wenn Trainingsdaten oder Algorithmen fehlerhaft sind.
- Medizinprodukt-Hersteller, wenn das System als Teil des Produkts verkauft wird.
- Ärzte, wenn sie KI-Ergebnisse ohne Prüfung übernehmen
- Kliniken, bei mangelhafter Implementierung
Aktuell fehlen klare gesetzliche Zuweisungen – was Hersteller zwingt, über Dokumentation, Risikomanagement und Haftpflichtversicherung abzusichern.
MDR & MPDG: Was sich seit 2021 geändert hat
Die Medical Device Regulation (MDR) gilt seit Mai 2021 und hat die Spielregeln für die Branche drastisch verschärft:
- Strengere Anforderungen an klinische Daten & Risikobewertungen
- Pflichten auch für Importeure & Händler
- Erweiterte Haftung über den gesamten Produktlebenszyklus
CE-Kennzeichnung bleibt verpflichtend – entbindet aber nicht von der Haftung, wenn ein Fehler vorliegt.
Fallstudie: PIP-Brustimplantate – eine Haftungskatastrophe
Die französische Firma PIP verwendete Industriesilikon für Brustimplantate – mit verheerenden Folgen: Tausende Frauen litten unter Schmerzen, Entzündungen und mussten nachoperiert werden.
Rechtliche Folgen:
- Geschäftsführer verurteilt
- Geschädigte erhielten teilweise Schadensersatz
- Haftung wurde auch auf Händler und Zertifizierungsstellen ausgedehnt
Der Fall zeigt: Produktsicherheit beginnt bei der Materialauswahl – und endet nie beim Vertrieb.
Wer haftet wann? Die Übersicht:
Beteiligter | Haftung bei… | Gesetzliche Grundlage |
Hersteller | Konstruktions-/Produktionsfehler | § 1 ProdHaftG |
Importeur | fehlerhafte, nicht CE-konforme Produkte | MDR, Art. 14 |
Händler | keine Rückverfolgbarkeit oder Dokumentation | MDR |
Arzt | Behandlungsfehler im Umgang mit dem Produkt | § 823 BGB |
Softwareanbieter | fehlerhafte Algorithmen | Deliktsrecht / Produkthaftung |
Wie Hersteller Haftungsrisiken minimieren
Pflichtprogramm für jeden, der Medizinprodukte vertreibt:
- Qualitätsmanagement nach ISO 13485.
- Risikobewertungen nach ISO 14971.
- Lückenlose Entwicklungsdokumentation.
- Produkthaftpflichtversicherung.
- Schulung von Anwendern und Vertriebspartnern.
Tipp: Die Beweislastumkehr (§ 6 ProdHaftG) macht es Patienten leicht – Hersteller müssen beweisen, dass ein Fehler nicht vermeidbar war. Dokumentation rettet hier den Tag.
FAQ zur Medizinproduktehaftung – Klartext für Hersteller & Juristen
1. Reicht eine CE-Kennzeichnung, um Haftung zu vermeiden?
Nein. Sie dokumentiert nur Konformität mit EU-Vorgaben – schützt aber nicht bei Produktfehlern.
2. Wer haftet bei KI-Fehlern in Diagnosesystemen?
Kommt auf den konkreten Fall an. Meist der Hersteller – aber auch Softwareentwickler und Kliniken können betroffen sein.
3. Wie lange kann man haftbar gemacht werden?
- 3 Jahre ab Kenntnis des Schadens
- 10 Jahre absolut ab Inverkehrbringen
4. Muss auch der Händler haften?
Ja, wenn z. B. die Rückverfolgbarkeit oder CE-Konformität nicht gegeben ist.
5. Was ist mit Produkten außerhalb der EU?
Importeure haften vollumfänglich – sogar dann, wenn sie das Produkt nur „weiterleiten“.
Fazit: Haftung beginnt nicht beim Gericht – sondern im Pflichtenheft
In der Praxis zeigt sich: Haftungsfragen bei Medizinprodukten sind kein Randthema, sondern ein zentrales Risikofeld. Wer mit CE-Kennzeichen, ISO-Zertifikat und guter Dokumentation meint, „safe“ zu sein, irrt sich gewaltig.
Je komplexer die Technik – besonders mit KI und Vernetzung – desto höher die Verantwortung.